1.1 Kritik an und Befürwortung von Frontalunterricht
Nachstehend werden wir Ihnen einige Thesen vorstellen, welche Frontalunterricht befürworten, allerdings auf eine relativ überzogene respektive tradierte Art und Weise.
Als Ergänzung zu der jeweiligen Behauptung nehmen wir eine kritische Position ein und versuchen einige Denkanstöße mithilfe unseres Inputs zu erzeugen, welche Ihnen dabei hilft die angeführte Argumentation zu hinterfragen bzw. Ihre persönlichen Ideen in den Boxen zu ergänzen.
These 1: Frontalunterricht erzieht zum obrigkeitsstaatlichen Denken und Fühlen.
Die Stärke des Frontalunterrichts ist damit zugleich seine Schwäche.
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These 2: Frontalunterricht ist besser als andere Sozialformen geeignet, einen Sach-, Sinn- oder Problemzusammenhang aus der Sicht und mit den Mitteln des Trainers darzustellen. Er ist kaum geeignet, die Selbständigkeit des Denkens, Fühlens und Handelns der Teilnehmer zu entfalten.
Frontalunterricht ist dann am Platze, wenn eine Wissens- oder Problemstruktur begriffen und nachvollzogen werden soll. Gerade weil die Möglichkeiten der Steuerung des Interaktions- und Kommunikationsprozesses für den Lehrenden hoch sind, hat er auch die Macht, seine Sicht der Dinge darzustellen. Dabei können freilich die äußere und die innere Seite des methodischen Handelns auseinander fallen: Weil dem Trainer der Sachzusammenhang klar vor Augen steht, muss seine Präsentation dieses Sachzusammenhangs nicht für die Teilnehmer gleichermaßen verständlich sein.
Viele Teilnehmer neigen dazu, sich im Seminargeschehen zu maskieren. Sie heucheln Aufmerksamkeit, Interesse und Verständnis, sie melden sich zum Schein, sie spielen die Rolle des "Profi-Schülers" recht erfolgreich. Es werden auch frühere Lehrer-Schüler-Verhaltensweisen und die damit verbundenen Ängste und Muster aktiviert. Eben deshalb ist es für den Trainer schwierig, realistische Rückmeldungen über das Ausmaß des Verstehens zu bekommen. Reale Rückmeldungen wie Prüfungen oder Anwendung im Arbeitsalltag sind dann zu spät.
Die Gefahr ist groß, dass der Trainer gemeinsam mit den drei, vier oder fünf Leistungsträgern des Seminars einen Sinn-, Sach- oder Problemzusammenhang inszeniert, dem die leistungsschwächeren Teilnehmer nicht mehr folgen können, ohne dass dies vom Trainer bemerkt wird.
Und trotzdem zeigt sich eine Präferenz von frontalunterrichtlicher Gestaltung (siehe Studie in der Einleitung dieses Kapitels). Der Frontalunterricht ist nach wie vor die mit Abstand häufigste aller Unterrichts- und Sozialformen!
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These 3: Die ungebrochene Vorherrschaft des Frontalunterrichts ist kein Betriebsunfall und auch kein pädagogisches Versehen, sondern ein durch gesamtgesellschaftliche, juristische, curriculare und institutionell-organisatorische Voraussetzungen bedingter Konstruktionsfehler der Schule.
Die von Vortragenden häufig genannten Argumente für die Beibehaltung des Frontalunterrichts lauten:
Nur, ist dem wirklich so?
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These 4: Frontalunterricht ist die vermeintlich effektivste Form der Stoffvermittlung, tatsächlich aber nur eine geeignete Form der Darstellung von Sach-, Sinn- und Problemzusammenhängen.
Dieses Argument scheint ganz tief im Alltagswissen der meisten Trainer verinnerlicht zu sein. Aber die Gewissheit eines Trainers, er sei mit dem Stoff "durchgekommen", sagt noch gar nichts darüber aus, ob der Stoff auch bei den Teilnehmern "angekommen" ist. Die Angst, mit dem Stoff nicht durchzukommen, ist oft das entscheidende Hindernis für die innere Lehrreform! (Man müsste Zeit wie Heu haben - und wer hat das schon?)
Die Vorstellung, dass es im Unterricht im Wesentlichen um die "Stoffvermittlung" geht, ist richtig und falsch zugleich: Sie ist richtig, weil durchgeführte Leistungskontrollen weitgehend noch immer "stofforientiert" erfolgen. Aber das überprüfte Wissen wird zumeist nur kurzfristig angelernt und ebenso schnell wieder vergessen. Auf Dauer zählt nur jenes Wissen, das mit Kopf, Herz und Hand angeeignet und in Handlungskompetenzen übertragen worden ist!
Es ist fatal, dass viele Schüler schon nach wenigen Schuljahren dasselbe Stoffvermittlungs-Denken verinnerlicht haben wie viele ihrer Lehrer. Viele fragen schon nach wenigen Tagen projektförmigen Unterrichts: "Wann haben wir wieder richtigen Unterricht?"
Ein zweites, oft genanntes Argument für die Beibehaltung des Frontalunterrichts lautet überspitzt in etwa: "Nur so habe ich meine Pappenheimer unter Kontrolle!"
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These 5: Frontalunterricht erleichtert eine oberflächliche Disziplinierung der Schüler.
Nur im Frontalunterricht kann die Masse der Schüler (Teilnehmer) jederzeit kontrolliert werden. Nur hier kann der Lehrer (Trainer) jederzeit Blickkontakt aufnehmen, jemanden zur Rede stellen oder zum Schweigen auffordern. Nur hier kann er jederzeit das Arbeitstempo beschleunigen oder verlangsamen; er kann korrigieren, loben, tadeln, ermuntern und unterbrechen.
Aber bei dieser Form der Disziplinierung handelt es sich lediglich um ein Laborieren an den Symptomen: Die meisten sind solange bei der Sache, wie sie sich beaufsichtigt fühlen. Versteht man unter "Disziplin" jedoch den Aufbau disziplinierter Sach- und Sozialbeziehungen der Schüler (Teilnehmer), so werden im Frontalunterricht allenfalls gewisse Vorleistungen für das Erreichen dieses Ziels erbracht:
Unter einer solchen Art der Anleitung lernt man hauptsächlich, sich sprachlich und sachlich angemessen auszudrücken; man lernt, auf andere zu hören und sich die Arbeits- und Regieanweisungen zu verinnerlichen. Die eigentlich wünschenswerte Selbstdisziplin ist im Frontalunterricht aber weder herzustellen noch zu überprüfen! Erst dort, wo man selbsttätig und selbständig arbeitet, lernt man, sich mit den Sachansprüchen der Lernaufgabe (des Stoffes) auseinanderzusetzen und diese zu meistern.
Ein dritter Grund für die Vorherrschaft des Frontalunterrichts liegt wahrscheinlich auch darin, dass dieser die Ritualisierung des Unterrichts erleichtert und damit die immer wieder gefährdete Machtbalance zwischen Lehrer und Schülern sichert.
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These 6: Frontalunterricht ist die Bühne für die Inszenierung von Unterrichtsritualen.
Was sind Unterrichtsrituale? Es handelt sich um geronnene Verkehrsformen im institutionellen Kontext des Unterrichtens. Alle Beteiligten liefern sich sinnlich-anschauliche Inszenierungen der "schulischen" Machtverhältnisse. Sie spielen mit- und gegeneinander, wer Herr im Haus ist.
Sie schaffen kalkulierbare Verhaltenserwartungen für Lehrer und Schüler, sie dienen der Demonstration der Macht der Institution, aber auch der Kanalisierung der Triebpotentiale des Lehrers und der Formierung und Unterdrückung der Interessen, Phantasien und motorischen Bedürfnisse der Schüler. Es wäre unsinnig, die Ritualisierung des Frontalunterrichts vollständig abbauen zu wollen, weil dies unter den gegebenen Verhältnissen nicht geht. Solange Schulen eine Selektions- und Disziplinierungsfunktion haben, wird es auch Rituale geben. Auch in Projektarbeiten werden neue Rituale geschaffen z.B. Vorgaben über Ablauf, Präsentation der Ergebnisse, usw.
In Zukunft wird es jedoch darauf ankommen, die aus dem Obrigkeitsstaat stammenden Rituale einseitiger Demonstration der Machtfülle eines Vortragenden abzubauen und durch neue Rituale zu ersetzen, welche die Beteiligungschancen aller am Unterrichtsablauf sichern.
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These 7: Frontalunterricht wird von engagierten und leistungsstarken Lehrern als befriedigend und sinnvoll erlebt, weil er (tatsächliche oder auch nur vermeintliche) direkte Rückmeldungen des eigenen Lehrerfolges liefert.
Die Mehrheit aller Beteiligten erträgt die Vorherrschaft des Frontalunterrichts ohne großes Murren.
Warum ist der Frontalunterricht so schön?
Es gibt ein Argument, das oft nur ganz verschämt und hinter vorgehaltener Hand zugegeben wird: Frontalunterricht macht Spaß! Trotz Zeitdruck, Stofffülle, Zensierungselend und vielem anderen mehr macht es Spaß, wie Lernende mit Geschick und Phantasie dazu gebracht werden, komplizierte Sachverhalte zu kapieren. Es befriedigt, ihnen eine Geschichte zu erzählen, die "ankommt", es ist schön, wenn der Unterricht rund und stimmig, interessant und auf hohem Niveau verlaufen ist. - Frontalunterricht schafft offensichtlich für viele Lehrende mehr Lustgewinn als z.B. Gruppenunterricht oder Partnerarbeit, weil dabei anschaulich und in direkten Rückmeldungen erfahren wird, was man gelernt hat.
Gegen ein solches Gefühl der Befriedigung ist überhaupt nichts einzuwenden - im Gegenteil muss betont werden, dass Erfolgserlebnisse das entscheidende Motiv für die engagierte Weiterarbeit und auch für die Verfeinerung des eigenen Methodenrepertoires darstellen.
Durch die Begeisterung über den eigenen Lehrerfolg vergisst man häufig, dass sich der Vortragende über die Ergebnisse von Gruppenunterricht, von selbständiger Einzelarbeit oder von projektförmigem Unterricht ebenso, wenn nicht noch mehr freuen könnte.
Eine zusätzliche Gefahr besteht darin, dass ein Lehrer vor lauter Selbstdarstellungsdrang und Schauspielerei die Teilnehmer aus den Augen verliert. Und dann kippt das positive Bild des engagierten, starken Trainers unversehens um in das negative Bild der narzisstischen Persönlichkeit - des Trainers, der von seinen Teilnehmern geliebt werden will, aber selbst nicht lieben kann, der fortwährend neue Objektbindungen sucht, aber sie doch immer wieder verliert, der fortwährend von den tollen Leistungen "seiner" Teilnehmer redet, aber in Wirklichkeit in diesen Berichten nur sein eigenes Lehrgeschick widerspiegeln will. Trainer sollten ins Gelingen, nicht in sich selbst verliebt sein!
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Nachstehende Ideensammlung dient als erste Zusammenfassung zu den wichtigsten Punkten in Bezug auf Frontalunterricht. Welche Punkte möchten Sie noch ergänzen?