EINLEITUNG

Prof. Arnold fordert gerne dazu auf "Lernen neu zu denken". Einen guten Einblick in diese Thematik zeigt das folgende Gespräch von Winfried Kretschmer (leitender Redakteur und Geschäftsführer bei changeX) und Prof. Dr. Rolf Arnold (Lehrstuhl für Pädagogik (Berufs- und Erwachsenenpädagogik) an der TU Kaiserslautern), welches sogleich den Titel dieser Serie liefert.

Es trägt den Titel:

Selbst gelernt hält besser

Bildung vermitteln heißt die Selbstlernfähigkeiten der Menschen stärken – ein Gespräch mit Rolf Arnold (von Winfried Kretschmer)

Winfried Kretschmer: "Ich lerne, also bin ich", lautet das Motto der Wissensgesellschaft. Jeder Mensch lernt anders und muss den Antrieb dazu aus sich selbst entwickeln. Bildung lässt sich deshalb nicht verordnen. Wir müssen radikal andere Wege gehen, fordert ein Pädagogikprofessor: Weg mit dem Maschinenmodell der Wissensvermittlung! Und stattdessen das Lernen von den Lernenden her aufzäumen: Sie in dem stärken, was sie an positiven Potenzialen und Fähigkeiten in sich haben. Und ihre Fähigkeiten zum Selber lernen entwickeln. Das verlangt mehr Handlungsfreiheit für die Lehrenden. Und mehr Vertrauen in sie.

Winfried Kretschmer: Herr Arnold, Ich lerne, also bin ich haben Sie Ihr Buch betitelt und korrigieren damit Descartes’ Satz: "Ich denke, also bin ich." Ist es das Lernen, das den Menschen ausmacht?

Rolf Arnold: Diese Festlegung auf die Kognition, auf das Denken, war eine Verengung, denn der Mensch ist ganzheitlich eingestellt. Er ist eben nicht nur Kopf, nicht nur Denken, nicht nur Kognition, sondern er ist auch – vielleicht sogar in erster Linie – Emotion. Und das Lernen ist das anthropologisch wichtigste Merkmal des Menschen. Sämtliche Lebensäußerungen des Menschen basieren auf Lernprozessen. Man kann nicht nicht lernen. Der Mensch hat als ein Mängelwesen nur deshalb überlebt, weil er lernfähig war, weil er sich an unterschiedliche Umgebungen anpassen kann. Und damit ist er anderen Lebewesen sehr überlegen.

Winfried Kretschmer: Wenn Lernen so zentral ist, was bedeutet das für die Art und Weise, Lernen zu organisieren?

Rolf Arnold: Der Mensch war immer schon lernfähig. Das, was er kann, muss er durch eigene Anstrengung entwickeln. Man hat festgestellt, dass 80 Prozent der Kompetenz, die ein Mensch in seinem Leben entwickelt, außerhalb und unabhängig von Schulen und ähnlichen Bildungseinrichtungen erworben wird. Das heißt: Wir müssen uns von der Illusion verabschieden, dass Menschen dann am besten lernen, wenn sie einen Lehrer haben.
Damit unterschätzen wir die Potenziale des Menschen. Wir müssen die Selbstlernfähigkeiten der Menschen ernst nehmen und stärken. […]
Gleichwohl machen wir weiter wie bisher. Ganz einfach deshalb, weil uns die Phantasie und die Entschlossenheit fehlen, radikal andere Wege zu gehen.

Winfried Kretschmer: Radikal andere Wege – wie können, wie müssen die aussehen?

Rolf Arnold: Grundsätzlich müssen wir stärker vom Lernenden her denken. Das bedeutet, dass wir eine andere Erziehungs- und Unterrichtskultur in den Schulen benötigen. […] Professionelles Handeln bedeutet, dass Lehrerinnen und Lehrer verstehen, dass sie dafür bezahlt werden, gerade mit den "schwierigen" Jugendlichen in Beziehung zu bleiben und sie in dem zu stärken, was sie an positiven Potenzialen und Fähigkeiten bereits in sich haben. […]
Wir müssen die Aneignungsfähigkeiten und die Problemlösefähigkeiten der Menschen gezielter stärken.

Winfried Kretschmer: Ihre Kritik am Bildungssystem ist sehr grundsätzlich: Sie sprechen von "Unterrichtstechnologie", von einem "Maschinenmodell in Bildung, Erziehung und Unterricht", von einem Scheitern der Versuche, durch detaillierte Planung von Lern- und Lehrprozessen Lernen nachhaltig zu gewährleisten. Warum?

Rolf Arnold: Bildung ist ein Prozess, der nicht gemacht oder hergestellt werden kann. Die Entwicklung von Kompetenzen, von Bildung ist – um es mit einem Wort von Piaget zu sagen – eine Leistung, die der Lernende vom Grunde seiner Seele selbst erzeugen muss. Wir aber tun so, als seien unsere Lernenden abhängig von unserem Input – entscheidend aber ist, dass dieser selbsttragende Prozess stattfinden kann. […] Die Frage ist dann, was wir an hilfreichen Voraussetzungen schaffen können, damit die Selbstorganisation, die de facto immer stattfindet, sich optimal entfalten kann.

Winfried Kretschmer: Und das meint Ihr Stichwort der Ermöglichungspädagogik?

Rolf Arnold: Es geht einfach darum, als Professional, als Lehrer, als Erzieher kreativer, vielfältiger und auch sehr viel selbstreflexiver zu sein. […] Der erste Schritt dahin ist, zu erkennen, wie ich meine Umwelt sehe. Denn damit stelle ich sie her, lege sie fest – und behindere sie in ihren Möglichkeiten.

Winfried Kretschmer: Das ist konstruktivistisch gedacht. Überhaupt ist der Konstruktivismus – neben der Hirnforschung – einer ihrer zentralen Bezugspunkte. Was kann man daraus für das Lernen lernen?

Rolf Arnold: Menschen bauen sich die Weltsicht aus den Mustern, die sie bereits haben. […]

Winfried Kretschmer: Das heißt, jeder Mensch sieht die Welt anders, jeder Mensch lernt anders. […]

Rolf Arnold: Genauso ist es. Der Konstruktivismus sagt ja nicht, dass es keine objektive Wirklichkeit gibt. Er sagt nur, wir können sie nicht erkennen.  
Wir können uns nur ein Bildnis machen vor dem Hintergrund unserer Möglichkeiten. Und welches diese Möglichkeiten sind, darüber verständigen wir uns. Der Durchbruch zu einer besseren Kommunikation und Kooperation liegt darin, dass wir das akzeptieren. Der andere sieht die Welt anders wie ich. Und ich höre auf, mit ihm über die Wirklichkeit zu streiten. Sondern ich gehe mit dieser Unterschiedlichkeit von Weltsichten um. Wenn das so ist, dann muss man das Lernen ganz anders organisieren, als Unterricht zu halten oder ein Seminar zu geben.

Winfried Kretschmer: Also Abschied nehmen von der Art von Wissensvermittlung, wie sie in Schulen und Hörsälen betrieben wird – die auf die Pädagogik der mittelalterlichen Klosterschulen zurückgeht?

Rolf Arnold: Schauen wir uns doch an, wie wir unsere Lern- und Bildungsprozesse organisieren:
"Wenn alles schweigt und einer spricht, so was nennt man Unterricht." Ein Kollege von mir hat das "prägutenbergisch" genannt – das heißt, es entstammt einer Zeit, als dies die einzige Form der Verbreitung von Wissen war, die man kannte. Und wir haben das zählebig als Muster erhalten und didaktisch nicht realisiert, dass es den Buchdruck schon lange gibt. Wir müssen die Aneignung von Wissen anders betrachten […]
[…] – wir müssen hier sehr viel mehr tun, wenn wir die Potenziale der Menschen bestmöglich entwickeln wollen.

Winfried Kretschmer: Wie kann das konkret aussehen?

Rolf Arnold: Das bedeutet, Abschied zu nehmen von der Vorstellung, dass einer die Verantwortung trägt und leitet. Das führt hin zu der Überlegung, dass eine Führungskraft dann gut ist, wenn sie die Kräfte im System zu bündeln vermag. Dazu gehört, Verantwortung zu übernehmen, dazu gehört Wertschätzung, und dazu gehört auch die Weiterbildung der Lehrer.

Das vollständige Interview und weitere Veröffentlichungen findet man unter folgenden Links:

http://www.uni-kl.de/paedagogik/arnold/Interview.pdf
http://www.sowi.uni-kl.de/wcms/185.html


SELBST GELERNT HÄLT BESSER - SERIE 1 / Teil 1, "Konstruktivistische Didaktik & Methodik"
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