2.1 Konstruktivismus als Lerntheorie & Konstruktivistische Didaktik


Zielfragen:
  • Wie grenzt sich der Konstruktivismus von anderen didaktischen Modellen bzw. Lerntheorien ab?
  • Welchen Standpunkt vertreten Konstruktivisten im Hinblick auf Lernen?
  • Wie definiert der Konstruktivismus Lernen?
  • Was beschreibt der Konstruktivismus als Lerntheorie?
  • Welche didaktischen Konsequenzen ergeben sich daraus?
  • Welche Rolle nimmt der Lehrende ein?


Konstruktivismus als Lerntheorie

Der Konstruktivismus wird als eine Gegenbewegung zum Wissensverständnis in der Tradition des Empirismus verstanden. Während Erkenntnis auf Sinneserfahrung beruht und die Aufgabe des Wissens die Repräsentation dieser Realität ist, vertreten Konstruktivisten die Meinung, dass es keine objektiv existierende Außenwelt gibt und "das Subjekt (als lebendes System) alleiniger Urheber des Wissens" ist (Gudjons, 1999). Wissen und Wahrnehmung werden als kognitive Konstrukte gesehen. Der Mensch erzeugt selbst unwillkürlich die Welt, in der er lebt, durch seine kognitiven Leistungen.

Die Welt so wie wir sie sehen erscheint als eine Erfahrungswirklichkeit.

Grundsätzlich wird davon ausgegangen, dass jeder Lernende "die Wirklichkeit" unterschiedlich wahrnimmt. Die Interpretation von Wahrnehmungen wird beeinflusst von unseren Vorerfahrungen, Erlebnissen, Vorwissen etc. Ein weiterer entscheidender Aspekt ist das individuelle Befinden, unsere Befindlichkeit beeinflusst unsere Wahrnehmung. Auch soziale Wahrnehmung (die Übernahme von Rollenkonzepten, sozialen Erwartungen, Idealen, Vor- und Feindbilder) haben Auswirkungen auf unsere Wirklichkeitskonstrukte.

Der Konstruktivismus hat in verschiedensten Disziplinen Eingang gefunden unter anderem in den Sozialwissenschaften, Psychologie und Erziehungswissenschaften.

Auch wird dieser als Lerntheorie gesehen, in der Lernende ihre Lernprozesse selbst steuern. Sie konstruieren ihre individuellen Lernsituationen, in denen sie selbst bestmöglich lernen können.

Das erlernte Wissen ist als die individuelle Repräsentation der Welt zu verstehen, da jeder Lerner etwas Eigenes lernt und dies wiederum von den eigenen Erfahrungen abhängt.

Erste Ansätze dieser Lerntheorie finden sich bereits bei Immanuel Kant, Johann Amos Comenius und Jean Piaget wieder. Vor allem letzterer spielte für Heinz von Foerster eine entscheidende Rolle für die Entstehung des konstruktivistischen Denkens.

Des Weiteren ist die konstruktivistische Lerntheorie der Auffassung, dass Lernen kein passives Aufnehmen und Abspeichern von Informationen und Wahrnehmungen ist, sondern ein aktiver Prozess der individuellen Wissenskonstruktion. Lernen wird als individuelle, selbstgesteuerte Überarbeitung und Erweiterung vorhandener Konstrukte verstanden.

Im Vergleich zum früheren Verständnis der "Eintrichterung" wird Lernen nun als ein Prozess der Selbstorganisation von Wissen verstanden.

Es ergeben sich daraus zwei Konsequenzen nach Paul Watzlawik (1982):

"erstens die Toleranz für die Wirklichkeit anderer – denn dann haben die Wirklichkeiten anderer genauso viel Berechtigung wie meine eigene. Zweitens ein Gefühl der absoluten Verantwortlichkeit – denn wenn ich glaube, dass ich meine eigene Wirklichkeit herstelle, bin ich für die Wirklichkeit verantwortlich, kann ich sie nicht jemandem anderen in die Schuhe schieben."

Warum sollten Lernenden selbsttätig, selbstbestimmt und selbstverantwortlich sein?

Nach Siebert (1994) muss die direkte Belehrung von einer "Animationsdidaktik" abgelöst werden, denn handelndes Lernen nimmt bei der Konstruktion der Wirklichkeit einen wichtigen Platz ein.

Unter Animation wird in diesem Kontext die Schaffung von Rahmenbedingungen für selbstorganisierte Lernprozesse und kulturelle Aktivitäten verstanden, welche nicht nur handlungsorientiert, sondern auch flexibel, spontan, kreativ, anregend, verändernd, gruppenorientiert und improvisierend sind (Siebert 2009).

Anders formuliert kann man sagen, dass wir am besten lernen, was wir selbst tun und über mehrere Sinneskanäle erfahren. Dies wirft natürlich oftmals Probleme bei Lehrenden auf. Oftmals werden fehlende Zeit, zu große Stoffmengen und keine geeigneten Räumlichkeiten angeführt, welche die Ermöglichung von Selbsttätigkeit aus der Sicht der Lehrenden beeinträchtigen, denn sie vertrauen dann häufig darauf, dass die Lernenden schon verstehen werden, dass aus den genannten Gründen das Präsentieren von Lösungen durch den Lehrenden notwendig ist und sie nicht immer alles selbst erleben können.

Zudem kommt, dass Lehrende oftmals dem Gewohnheitsproblem erliegen, es gibt Methoden, welche irgendwann einmal Erfolg brachten und daher beibehalten wurden. Neuem wird kritisch und skeptisch gegenüber getreten. Wozu soll man etwas Neues versuchen?

Hierzu nimmt die systemisch-konstruktivistische Didaktik eine klar gegenteilige Position ein: findet Lernen auf diese Art statt, so wird es stets oberflächlich bleiben und die Inhalte schnell vergessen werden. Selbstbestimmung spielt hierzu eine bedeutende Rolle, denn wenn TeilnehmerInnen mitbestimmen können, was für sie in Lernprozessen wichtig ist, so wird die Voraussetzung für langfristiges Behalten von Informationen geschaffen. Durch die Förderung von Selbstbestimmung und Selbsttätigkeit resultiert Selbstverantwortung, welche Lernende für nachhaltiges Lernen erleben und übernehmen müssen.

Methodische Fantasie und Experimentierfreudigkeit sind wichtig um neue Ideen konstruieren zu können, welche für eine Gruppe, in einer bestimmten Situation zu einem bestimmten Problem am besten geeignet sind.


Konstruktivistische Didaktik

Didaktisch werden Situationen geschaffen, welche zu einer Veränderung der Wirklichkeit der Lernenden in bestimmten Teilbereichen einladen. Kooperation, Kommunikation und Interaktion dienen hierbei der Problemlösung.

Die gemäßigte konstruktivistische Didaktik, auf welche wir uns in weiterer Folge beziehen, zielt im Wesentlichen auf einen reformpädagogischen, erfahrungs- und handlungsnahen Unterricht ab.
So zeigt zum Beispiel Kersten Reich der Begründer der systemisch-konstruktivistischen Didaktik vor allem an Celestin Freinet orientierte reformpädagogisch geprägte Methoden, die durch Hinweise auf Methoden aus der systemisch orientierten Beratung und Therapie ergänzt werden.

Auch Freinet ging von der Notwendigkeit der Selbsttätigkeit, des "learning by doing" ebenso aus wie John Dewey, gleichwohl Freinet zu den Vertretern der Aufklärungspädagogik gehört. Jedoch bleibt der Lehrende weit reichend verantwortlich, denn obwohl Lernende Arbeitsaufträge selbsttätig erledigen, werden Unterrichtsmaterialien und Lösungswege vom Lehrenden vorkonstruiert und oftmals klar vorgegeben.

Für detailliertere Erklärungen zu Abgrenzung zu Celestin Freinet verweisen wir auf die Ausführungen von Kersten Reich (2010).

Rolf Huschke-Rhein (systemische Pädagogik) wiederum beschreibt Pädagogik als eine das ganze Leben begleitende Beratungswissenschaft. Das Ziel von Bildung ist für ihn die interne Fähigkeit von Menschen zur Selbstorganisation.


Die Rolle des Lehrenden

Der Lehrende tritt aus der Rolle des Wissensvermittlers in die Rolle des Lern(prozess)begleiters und nimmt eine beobachtende Position ein, von der aus er unterstützend in das Lerngeschehen eingreifen kann.
Der Lehrende kann somit nur Angebote machen, "perturbieren". Die Bedeutungszuschreibung erfolgt im Kopf des Lernenden.

Ziel der Lehrenden muss es daher sein, möglichst kommunikationsorientierte Umgebungen zu schaffen, welche die subjektiven Erfahrungsbereiche ansprechen und gleichzeitig neue "Problemstellungen" beinhalten, welche interaktiv und kreativ zur Selbstorientierung verhelfen.

Zudem fördern Lehrende Verknüpfungen von Alltagslernen und "Schulwissen" und regen durch Aufgabenstellungen zu Problemlösen, Selbstbeobachtung und Selbststeuerung an.


Vertreter des Konstruktivismus

Wie Sie bereits in Kapitel 1 erfahren haben, gibt es einige Vertreter und Begründer im Feld des Konstruktivismus.
Hierzu möchten wir nur ergänzen, dass in den 70er Jahren Paul Lorenzen und Wilhelm Kamlah den methodischen Konstruktivismus begründeten.

Unabhängig davon entstand in den 80er Jahren der Radikale Konstruktivismus, ausgehend von Humberto Maturana und Francisco Varela, welche biologische und neurophysiologische Begründungen für den Konstruktivismus lieferten.

Ernst von Glaserfeld beschrieb die wissenschaftstheoretische Variante.

Wir beziehen uns im Folgenden auf den systemisch-konstruktivistischen Ansatz, welcher aus dem gemäßigten Konstruktivismus entstand.


Infobox
  • Fähigkeit zur Selbstorganisation
  • Lernen als aktiver Prozess der individuellen Wissenskonstruktion
  • Erfahrungswirklichkeit(en)
  • Es gibt keine objektiv existierende Außenwelt
  • Lernende steuern Lernprozesse selbst.
  • Lehrender wird zu Lern(prozess)begleiter.
  • Wir lernen am besten, was wir selbst tun.
  • Handlungs– und erfahrungsnaher Unterricht
  • Selbstverantwortung und Selbstorganisation

Im nachfolgenden Kapitel bieten wir Ihnen eine detaillierte Beschreibung zu den Grundprinzipien und –annahmen des Konstruktivismus. Lesen Sie auch das Kapitel psychologische Sicht sowie Gehirnforschung und Lernen.
Danach kehren Sie zu folgender Auflistung, welche einige erste Schwerpunkte der konstruktivistischen Didaktik und somit zugleich Abgrenzung zu anderen Didaktiken zeigt, zurück und ergänzen mögliche weitere Punkte und Spezifikationen.

Erzeugungsdidaktik Konstruktivistische Didaktik/
Ermöglichungsdidaktik
   -  Lehrerzentriert    -  Lernerzentriert
   -  Schüler erlangen bestimmten Wissensstand durch Unterrichten, auf welchem aufgebaut werden kann    -  Wirklichkeit wird durch das Individuum konstruiert
   -  objektorierntiert    -  Gibt dem einzelnen mehr Verantwortung
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SELBST GELERNT HÄLT BESSER - SERIE 1 / Teil 1, "Konstruktivistische Didaktik & Methodik"
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